Report: Das Bürger-Internet, Neutralität ist nicht genug

Am 6. März 2015 hat Netopia seinem BerichtDas Bürger-Internet, Neutralität ist nicht genug am Haus der Kulturen Der Welt veröffentlicht.

Jede Analyse der Auswirkungen digitaler Technologie auf unsere Gesellschaft beginnt bei der Technologie – und nicht in der Gesellschaft. Das steckt schon im Kern der Frage: zuerst die Technologie, dann die Auswirkung. Diese Sichtweise legt nahe, dass Technologie gewissermaßen in einem Vakuum entsteht und nur darauf wartet, in die echte Welt entlassen und angewandt zu werden. So wird ihr viel Wirkung zugesprochen: Je nach Umgebung wird von ihr erwartet, dass sie Aufgaben übernimmt und Wachstum generiert, auch neue Kulturformen ausbildet oder Freiräume für Unterdrückte schafft. Oder aber sie führt in einen Überwachungsstaat, automatisiert die Jobs der Mittelklasse und öffnet dem Hyperkapitalismus und seinen Konzernen, die mächtiger als Staaten sind, Tür und Tor. Ob Technikoptimist oder –pessimist, die Grundannahme bleibt in beiden Fällen gleich: Technologie beeinflusst die Gesellschaft.

Jüngstes Beispiel ist das Thema Netzneutralität, das sowohl in Brüssel in den Fokus gerückt ist, als das Europaparlament im April 2014 für ein neutrales Netz gestimmt hat und sich die Mitglieder des Europarats in diesem März auf einen Resolutionsentwurf einigten, als auch in Washington, wo die Federal Communications Commission dieses Jahr im Februar über das gleiche Thema entschieden hat. Auch hier steht, je nach dem, wen man fragt, ein neutrales Netz entweder für die Durchsetzung von Demokratie und Freiheit in der digitalen Welt oder für das Ende von Innovation und privatwirtschaftlichem Engagement. Entweder spaltet sich das Internet in langsame und schnelle Leitungen auf, setzt weiter die Wer-hat-dem-wird-gegeben- Dynamiken der Internetwirtschaft durch, lässt große Unternehmen wachsen und kleine schrumpfen. Oder aber die Regulierungen der Netzneutralität stehen Entwicklungen im Weg, bei denen es um Leben und Tod geht: beim Sicherheitsmanagement im Straßenverkehr etwa, bei vernetzten oder selbstfahrenden Autos, der ferngesteuerten Chirurgie und anderen Anwendungen der Telemedizin.

Auch hier steht, je nach dem, wen man fragt, ein neutrales Netz entweder für die Durchsetzung von Demokratie und Freiheit in der digitalen Welt oder für das Ende von Innovation und privatwirtschaftlichem Engagement.

Netzwerkneutralität gründet auf der Vorstellung, dass Infrastruktur vom Inhalt unabhängig ist. Bei den (meist staatlichen) Telefonnetzen des 20. Jahrhunderts und beim Kabelfernsehen war das vermutlich auch der Fall. Heute jedoch erleben wir, wie Inhalt und Infrastruktur ineinander übergehen. Internetdienstleister entwerfen Betriebssysteme für Mobiltelefone, investieren in Rechenzentren und sogar in den Ausbau von Hochgeschwindigkeits-Glasfasernetzen, um Kunden eigene Angebote machen zu können. Hersteller von Endgeräten betreiben Marktplattformen, auf denen Drittanbieter ihre Anwendungen nur verkaufen dürfen, wenn sie für die entsprechenden Endgeräte des Herstellers programmiert wurden. Internetzugangsprovider entwickeln inhaltsbasierte Dienstleistungen und gestalten den Datenverkehr nach ihren Geschäftsmodellen. Geschlossene Systeme, sogenannte Walled Gardens, in denen die Gerätehersteller darüber bestimmen, welche Apps eingelassen werden, sowie die expandierenden Domänen der Cloud-Giganten unterminieren die einst so gefeierte „End-to-End“-Struktur des Netzes. Auch die Netzwerktechnologie selbst verändert sich. Sogenannte Content Delivery Networks speichern vielbesuchte Internetinhalte auf Servern in Konsumentennähe, statt auf dem Originalserver. Zu diesem Zentralisierungstrend gesellt sich eine Gegenbewegung: die Fragmentierung. Öffentliche Wifi-Hotpots verbinden Nutzer ohne Beteiligung von Netzbetreibern. Im sogenannten Internet der Dinge kommunizieren Maschinen mit Maschinen und verwenden dabei oft andere Kommunikationskanäle als das Internet mit seinem TCP/IP-Standard. USB-Sticks mit Speicherkapazitäten, die weit über den täglichen Bedarf eines Durchschnittsnutzers hinaus gehen, erlauben den Austausch von Dateien im „Meatspace“ (der realen Welt, im Gegensatz zum „Cyberspace“) über das sogenannte Turnschuhnetzwerk. Es gibt nicht mehr nur ein einziges Internet. Es existieren viele verschiedene, weil in den Tiefen des Netzes immer mehr Inhalte hinter Passwörtern verwahrt werden. Ist ein einfaches Konzept wie die Netzneutralität für die Regulierung der Technologie in dieser komplexen Landschaft noch angemessen? Ist die Infrastruktur sichtbar?

Diese Gedanken haben mich als Gründer und Direktor von Netopia – Forum for the Digital Society nicht mehr losgelassen. Deshalb habe ich Ralf Grötker, den Autor dieses Berichts, gebeten, anders an das Thema heranzugehen. Was passiert, wenn wir nicht bei der Technologie und ihren Auswirkungen anfangen? Wenn wir stattdessen unsere Ziele in den Blick nehmen – Pluralismus, Meinungsfreiheit, öffentliche Teilhabe – und uns fragen, wie diese Ziele sich auf die Technologie auswirken? Würden wir so zu ganz anderen Lösungen finden? Die Antwort auf diese Frage lautet: ja. Und unsere Antwort auf diese Erkenntnis ist dieser Report. Ich hoffe, Sie finden ihn ebenso inspirierend wie ich.

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Hier die Wiedergabe der Einführungsveranstaltung

Per Strömbäck
Gründer und Direktor Netopia